Annemarie JaunAnnemarie JaunSeit 24 Jahren unterrichtet Antoinette Jaun an der Sprachheilschule Matte. Gemeinsam mit Christine Mathys übernahm sie 1995 die Schulleitung. Im Sommer 2012 dann geschah das Unfassbare, Christine starb.

Ich rede heute noch in der Wir-Form

«Christine und ich haben uns hier in der Matte kennen gelernt und sofort, ab Beginn unserer Zusammenarbeit entstand eine enge Freundschaft. Die gemeinsame Arbeit hat uns zusammengeschweisst und war uns beiden wichtig. Ich rede heute noch in der Wir-Form – wir sind einverstanden – oder wir machen das so. Ich glaube, ich muss mir das in Zukunft abgewöhnen», meint Antoinette nachdenklich. «Das wird allerdings noch einen Moment dauern.»
«Christine und ich haben viel gelacht und geredet, auch nach ihrer Erkrankung. Ihre Schwester und ihr Mann haben sie gepflegt bis zum Schluss. Ich war eher für die geistige Unterstützung zuständig. In der Schule unterstützte mich Christine, solange es ihr möglich war. Wenn ich ein Problem hatte, konnte ich dies auch während ihrer schwerer Krankheit mit ihr besprechen.» Christine Mathys verstarb im Juli 2012 und seither hat sich für Antoinette einiges verändert. Waren sie früher das «Dream-Team» aus der Matte muss nun Antoinette Jaun alleine entscheiden und auch alleine die Verantwortung tragen.

«Was ist anders seit Christine weg ist?»

«Jetzt bin ich alleine. Ich habe ein Superteam, mein Kollegium ist wirklich grossartig und doch fehlt uns Christine sehr. Seit Frühling habe ich neun neue Leute angestellt und es ist nicht schlecht herausgekommen», lacht sie. «Es sind wirklich gute Leute. Früher haben wir Entscheidungen zusammen gefällt nun entscheide ich alleine. Ich denke, dass Christine mir prüfend von oben zuschaut. Kurz vor ihrem Tod bemerkte sie lachend: «Weisst du ich schaue dann vom Wölkli hinunter. «So kann bestimmt nichts schiefgehen.» Ein leises Lächeln huscht über Antoinettes Gesicht. Sie strahlt Zuversicht und Bestimmtheit aus.
«Ich habe jetzt mehr Zeit».
Ich schaue sie etwas verdutzt an. «Weisst du, jetzt mache ich ausschliesslich die Schulleitung und habe meine Klasse aufgegeben. Manchmal bedaure ich es. Aber die Entscheidung war schon richtig, denn beides wäre wirklich zu stressig gewesen.»

«Wie würdest du Christine beschreiben?»

«Christine war ein emotionaler, kommunikativer und sozialer Mensch. Sie war jemand der wohlwollend und mit grosser Achtsamkeit auf andere Menschen zuging. Kinder, Eltern und Lehrer haben sich bei ihr wohlgefühlt. Hilfsbereitschaft und Humor gehörten gleichermassen zu ihren Eigenschaften. Sie liebte schräge Witze. Sie mochte die Matte, die Berge, das Bergsteigen, das Wandern, das Fotografieren. Ihre Bilder sind Spitze.!»
Antoinette gerät ins Schwärmen …
«Gab es etwas, was dich an ihr genervt hat», will ich schliesslich wissen.
Antoinette denkt lange nach, bevor sie mir bedächtig antwortet: «Wir waren schon manchmal nicht gleicher Meinung und doch haben wir immer wieder einen Konsens gefunden. Sie war oft so schnell in ihren Gedanken und ich brauchte ab und zu etwas Zeit mir das Ganze zu überlegen.»

Antoinette und ChristineANtoinette Jaun / Christine Mathys / Antoinette

 

«Und wer ist aber Antoinette?»

Etwas erstaunt schaut sie mich an.
«Ich mag Blumen und Gärten. Ich war und bin leidenschaftliche Lehrerin. Klar habe ich meine Klasse losgelassen. Natürlich konzentriere ich mich nun auf die Schulleitung.»
«Was vermisst du am meisten nicht mehr Lehrerin zu sein?»
«Als Lehrerin konnte ich eine breite Palette an Interessen für die Schule einbringen. Wenn die Kinder sich für Wale oder Pilze interessieren, dann beschäftigte ich mich damit. Ich habe immer sehr gerne Lektionen vorbereitet und dann meine kreativen Ideen umgesetzt. Früher lehrte man in den Schulen viel mehr Theorie, heute sind Erlebnisse gefragt. Ich liebe Kinder und bin gerne Lehrerin. Nun, ich habe mich für die Schulleitung entschieden und das ist gut so. Ich kann nach meiner Pensionierung in rund drei Jahren immer noch mit Kindern arbeiten, wer weiss.»
«Was magst du an dir nicht?»
Sie denkt lange nach: Ich habe einen grossen Perfektionsanspruch. Ich wollte einmal weise werden. Damals meinte Christine trocken: «weisch wie längwiilig.»

«Was bedeutet dir die Matte?»

Es ist einfach ein schönes Quartier. Ein schöner Schulweg und es ist wie Heimat. Ich komme gerne in die Matte und arbeite mit Freude hier unten. Manchmal spaziere ich der Aare entlang ins Kirchenfeld. Dort lebe ich seit elf Jahren mit meinem Partner, dem Schiftsteller Sam Jaun.

«Wie erlebst du die Mätteler?»

Sie muss nicht lange nachdenken. Sie sind hilfsbereit, eine verschworene Gemeinschaft bei Überschwemmungen, sonst aber eher eigenbrötlerisch, kreativ, eigenwillig, verschroben, Individualisten und es hat Platz für Originale und Menschen, die man nicht schubladisieren kann», sagt sie lächelnd.
«Was ist es eigentlich, was dich solange an der Sprachheilschule hält?»
«Es ist eine spannende Arbeit. Jedes Kind ist anders. Es kommen Kinder zu uns mit einer Sprachbehinderung im Sinne der IV bei normaler Intelligenz. In der Regel kehren die Kinder nach 2 – 3 Jahren in die Regelklasse zurück. Wir unterrichten von der 1. – 9. Klasse. Es sind auch Quereinsteiger, die beispielsweise auch erst ab der 4. Klasse bei uns eintreten
 Die Anzahl Schüler im Gesamten ist gestiegen, hatten wir 1989 noch 60 Schüler, sind es nun doch gegen hundert, die die Sprachheilschule besuchen. Nur die Räume sind immer noch die gleichen.»

«Was machst du anders seit Christine nicht mehr hier ist?»

«Ich glaube ich mache gar nicht so viel anders. Mir fehlen manchmal die Ideen Veranstaltungen zu gestalten, die bei ihr nur so gesprudelt haben. Ich werde wohl eher delegieren», meint sie schelmisch. Ich lasse das Team mehr alleine machen. Die neuen Leute bringen auch neue Ideen. Natürlich werde ich Einfluss nehmen und sagen, was ich möchte. Ich bin froh, wenn andere zündende Ideen haben. Es ist auch gar nicht schlecht wenn junge Menschen im Team sind und etwas bewegen.» Antoinette wird nachdenklich. «Ich vermisse Christine und irgendwann möchte ich sagen können: «Es war toll mit dir zusammengearbeitet zu haben» Das wäre mir lieber, als zu wissen, dass sie gestorben ist.»
Gemeinsam gehen wir in den schönen Herbsttag hinaus, um die obligaten Bilder für den Mattegucker zu schiessen. Antoinette entscheidet sich für den Findling zwischen den Schulhäuser als Hintergrund. Sie erzählt mir zum Schluss noch folgende Geschichte. «Damals, am Anfang vom Schuljahr 2005 haben wir allen eine Karte geschickt und haben geschrieben: guter Start, euer Fels in der Brandung! Und dann, kurze Zeit später kam das Hochwasser!»

Herzlichen Dank für deine Zeit und das feinfühlige Gespräch. Ich habe mich sehr wohl gefühlt und wünsche dir als Schulleiterin weiterhin Erfolg und Zuversicht.


Rosmarie Bernasconi