Peter Maibach«Leise Peter, leise, der Mond geht auf die Reise» singt das Kindermädchen. Sie rückt das Kissen mit dem rotweissen Karomuster zurecht, zieht die schwere Decke hoch. Den Teddy im Arm schwebe ich  bleimüde hinein in jenes dunkle Gegenreich aus Stille, das vom kühlen Mond regiert wird. Solche Nächte würde ich nie mehr erschlafen können. Die Geschäftigkeit des Tages wird leiser, rückt weit weg. Das Wachsein schaltet sich aus, wie die Papierlampe im Kinderzimmer, die mondrund von der Decke hängt.  Aus dem Flur schimmert gedämpftes Licht durch die Türe, die immer eine Handbreit offen stehen muss. Von unendlich weit weg begleiten mich die leisen Stimmen der Eltern oder ein Konzert im Radio.
Meine Welt weitete sich aus und wurde zunehmend komplizierter. Zahlen stellten sich in Reih und Glied, sie steuerten von nun an das Leben. Nichts, das nicht gezählt, gemessen, gewogen und berechnet werden konnte. Buchstaben erwachten und begannen sich zu Worten zusammenzufügen, Worte zu Sätze, Sätze zu Bücher. Meine Tage wurde nicht mehr durch hell und dunkel, durch Sonne und Mond gesteuert.  Sie wurden in Stunden zerschnitten, in Minuten. Sie wurden in Wochen zusammengefasst und diese in Monate, Jahreszeiten und Jahre. Der prüfende Blick am Sonntagmorgen zum Fenster hin, ob schon Tageslicht durch die Läden schimmere und man endlich die Eltern wecken gehen könne, wich einem Blick auf die Leuchtziffern des tickenden Weckers. Erst in drei Stunden würde es Frühstück geben.
Mit mechanischer Genauigkeit wurde festgelegt, wann es Zeit war, zu Bett zu gehen. Das war mir mehr als einmal lästig, denn der Tag sollte hundert Stunden haben, wenn es ein guter Tag war. Und höchstens sieben, wenn es ein schlechter würde. Neben dem roten Wecker mit der lustig tickenden Mickeymaus stand die Nachttischlampe. Per Knopfdruck holte ich mir den Tag in die Nacht. Lesen, lesen, lesen. Gefesselt vom spannenden Buch, ein Finger auf dem Lichtschalter, angespannt horchend, ob Vater oder Mutter auf dem Flur kontrollierten. Unter der Bettdecke verkrochen, weil die Gesichte so  herrlich gruselig war und die Radiatoren immer dümmsten Moment knacken mussten.
Ich schrecke hoch. Diese Nacht ist Vollmond, Sonne der Schlaflosen. Leise, Peter, leise. Es ist der selbe Mond, der meinen Kinderschlaf behütete. Kühl und bleich leuchtet er durch das offene Fenster. Die Frau an meiner Seite schläft tief, ihr Atem ist kaum zu hören. Wie vertraut und dennoch fremd sie mir scheint in diesem magischen Licht. Sie scheint meinen Blick zu spüren und zieht murmelnd die Decke über den Kopf. Aber nichts kann sie wecken. Wie in einem Kanu gleitet sie über den schwarzen See der Nacht. Ich knipse das Lämpchen an, verscheuche den Mond mit der elektrischen Sonne, greife nach Brille und Buch. Bücher in der Nacht sind anders, ehrlicher, direkter.
Doch dann scheint die Sonne hell ins Zimmer. Die Lampe ist ausgeschaltet, das geschlossene Buch liegt auf dem Nachttisch, jemand hat mir die Brille abgenommen und weggelegt. Das Bett neben mir ist leer. Kaffee und frisches Brot rufen aus der Küche. Auf, der Tag ist da! Nutze ihn, er ist einmalig und er gehört dir!
Der Morgen ist frisch und prickelt auf der Haut. Nur noch rasch die Pferde schirren und hinaus, hinaus in die Sonne fliegen, der Wärme entgegen. Eintauchen in die hellen Strahlen, die immer lichter werden. Die Räder des  Kinderrollers quietschen immer schneller. Ich erkenne keine Konturen mehr und keinen Schatten. Blendendes Weiss, das in den Augen schmerzt. Aus dem Augenwinkel sehe ich den Sandkasten und meinen roten Eimer, mit dem einmal mehr meine Kameraden spielen. Verblüfft schauen sie mir zu mir hin. Ich rase, werde immer schneller. Mein Roller fliegt die steile, gepflasterte Strasse hinunter. In der Sekunde, in der ich den grauen Wagen entgegenkommen sehe, weiss ich, dass ich  nicht mehr anhalten kann. Ich gebe den Lenker frei, springe in voller Fahrt ab. Dann ist alles schwarz. Tiefe, stille Nacht. Leise Peter, leise.
Als ich die Augen wieder aufschlage, liege ich in den Armen eines grossen, starken Mannes, der mich die steile Strasse hoch trägt. Der Stoff seines Anzuges kratzt, er riecht nach Zigarette. Mein Knie schmerzt und scheint zu bluten.
«Bist du der liebe Gott?»  frage ich.
«Nein, dummer Bub. Du bist in mein Auto geknallt. Der ganze Kotflügel ist zerkratzt!»

Aber, warum sollten irdische Autos Flügel haben?

 

Peter Maibach, www.petermaibach.ch