Peter MaibachFrühling, die Jahreszeit der Liebe? Die Antwort auf diese Frage muss jeder für sich selber beantworten. Tatsache ist, dass mit den ersten warmen Sonnenstrahlen deutlich mehr Verliebte auf den Parkbänkchen anzutreffen sind als etwa im eisigen Winter - logisch. Die «amoureux des bancs publics» wirken ansteckend und schon nach einigen wenigen milden Tagen verwandelt sich die Berner Münsterplattform in einen romantischen Park der Freuden.
Diese Freuden allerdings können durchaus auch unerwünschte Nebeneffekte mit sich bringen oder wie mein Vater zu seinem damals zum Mann erwachenden Sohn gegenüber seiner Aufklärungspflicht abschliessend nachkam: «Mach was du willst, aber mach nichts Lebendiges». Dermassen gut gerüstet schritt ich zuerst in den obligatorischen Tanzkurs und dann hinaus ins Leben. Wobei sich bald einmal herausstellte, dass das einmal mehr so eine Erwachsenensache war, bei der Theorie und Praxis weit auseinander klaffen.

Denn mein erster Eroberungszug beim weiblichen Teils der Erdenbevölkerung - oder wenigster derjenigen der verschlafenen Stadt Bern und ihrer Aussenbezirke - fand in einer Epoche statt, von der nicht wenige behaupten, es sei die gute alte Zeit gewesen. Ich habe das seinerzeit nicht so wahrgenommen. Vieles, was heute selbstverständlich ist, war damals noch tabu, anderes war noch nicht erfunden. So, auf den Frühling und seine schwer zu bändigen Triebe bezogen, bestand ein Spannungsfeld, dass es die Pille noch nicht gab und Verhütung vorwiegend mit Tage-Abzählen oder auf Gummi-Latex Basis erfolgte, je nach sozialem Sprachverhalten also mit Gummis, Parisern, Nahkampfsocken, Kondomen oder verschämt mit «jenen Dingern für unten rum, du weisst schon».

Erschwerend hinzu kam, dass einem diese «du weisst schon» Dinger nicht einfach nachgeworfen wurden, wie das heute Brauch ist. Kürzlich an der Supermarktkasse habe ich doch tatsächlich beinahe die Verhüterlis mit Kaugummi verwechselt, der mit Pfefferminzaroma für lang anhaltend frischen Atem.
In der erwähnten grauen Vorzeit verkaufte der Apotheker das spezielle Liebeszubehör für den erwachsenen Mann von Welt unter dem Ladentisch und mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. Unter uns Jungen war es die Mutprobe schlechthin, dort Präservative einzukaufen. Die gesamte Clique begleitet den mutigen Kandidaten, der inzwischen deutliche Anzeichen von Lampenfieber aufwies, bis vor den Laden. Die treuen Freunde klebten am Schaufenster der Apotheke, glotzten hinein, klopften an die Schieben und johlten, während das arme Opfer im Laden alle Varianten durchspielte, wie lange er wohl noch das Sortiment an Kräutertees anstaunen müsse, bis endlich kein anderer Kunde mehr im Laden stand und auch die junge Verkäuferin im Lager beschäftigt sei und er dem Apotheker ein Päckli Ceylor Blauband - natürlich für den Vater - abschwatzen könne.

Das war der wahre Held, der den wartenden Kollegen draussen triumphierend das kostbare Päckchen unter die staunenden Nasen hielt! Obwohl bei weitem nicht jeder, der ehrlich blieb, von sich behaupten konnte, auch nur einen einzigen Gummi im dafür vorgesehenen praktischen Einsatz erlebt zu haben. Bei den meisten blieb das einzige Herzklopfen dasjenige beim Einkauf.

Das schwere Los einer solchen peniblen Mutprobe blieb mir erspart. Ich kam zu den Gummis sozusagen wie die Jungfrau zum Kind. Es war Nachmittags, nach der Schule. Die Mutter hatte mir aufgetragen, aus der Apotheke beim Zytglogge eine Tube ihrer Lieblingssalbe nach Hause zu bringen. Ausgerechnet Handcreme! Wenn mich bloss keiner aus der Klasse sah. Die Schmach wäre unerträglich, wenn ich beim Einkauf von solchen verweichlichten Mädchensachen beobachtet würde. Ich stand unbeholfen in einer Ecke im strahlend hell erleuchteten Verkaufsraum und liess jedem anderen Kunden freundlich den Vortritt. Zudem spähte ich zum Schaufenster, ob nicht etwa ein Schulkamerad per Zufall draussen vorbei gehe. Murmelnd bastelte ich mir ein Sätzchen zurecht, aus dem meine Bestellung hervorgehen sollte, vor allem, dass die Salbe ausschliesslich für die Mutter bestimmt sei und ja nicht etwa für mich harten Mann, der sich schon bald einmal wöchentlich würde rasieren müssen.
Dermassen in Gedanken versunken, bemerkte ich nicht, wie sich eine Verkäuferin näherte, den hoch aufgeschossenen jungen Mann taxierte, der unbeholfen brummelnd sich verlegen in einer Ecke im Laden zu verkriechen suchte. Freundlich begrüsste sie mich und verwickelte mich in ein Verkaufsgespräch. Bevor ich etwas von Mutters Handsalbe stammeln konnte, wies sie mit einer weiten Geste auf das sich vor mir ausbreitende Sortiment hin.
«Ich finde es so mutig von Ihnen, dass sie sich beraten lassen wollen. Nicht alle jungen Männer sind so aufgeschlossen! Nur allzu viele Herrschaften sind zu schüchtern und überlassen das lieber ihren Partnerinnen.»

Ich schaute dApotheke Bernie flotte Bedienung fragend an. Ich verstand nicht, was sie meinte. So verheerend war es jetzt auch wieder nicht, Handcreme einzukaufen. Ich muss ziemlich verwirrt ausgesehen haben. Die Verkäuferin nahm das zum Anlass, etwas weiter auszuholen.
«Sehen Sie, wir habe das Sortiment erweitert. Es gibt sie in allen Grössen und neu auch mit Gleitcrème und sogar mit Aroma.» Die Dame in der weissen Schürze lächelte verschwörerisch, wies auf den bunt eingerichtete Verkaufsregal hin. Während sie weiterhin die Vorteile ihrer Waren hervorhob, etwa die Reissfestigkeit und den Tragkomfort und das spezielle Hautgefühl, das vermittelt würde, entdeckte ich endlich siedend heiss, dass ich mir ausgerechnet die Ecke mit den Kondomen zum warten ausgesucht hatte.

«Ich gebe Ihnen ein paar Gratismuster mit, damit Sie auf den Geschmack kommen, sozusagen!», kicherte die Dame in der weissen Schürze. Im Gegensatz dazu stand mein Kopf, der immer röter wurde. Ich war wie gelähmt. Aber je länger ich schwieg desto eifriger wurde die Missionarin in Sachen Verhütung. Bereits spitzen einige ältere Kundinnen ihre Ohren, sahen neugierig zu uns hinüber.
«Das ist sehr freundlich von Ihnen,» flüsterte ich endlich.
«Sie müssen sich nicht genieren, das ist das Natürlichste der Welt!» Die rührige Dame zwinkerte mir verschwörerisch zu und drückte mir eine Packung Blauband in die Hand.
Wie im Trance vernahm ich ihre weiteren praktischen Erklärungen, die darin mündeten, das ich instruiert wurde, wie man die Dinger zu montieren und korrekt zu entsorgen habe. Trotz aller altersbedingter Neugier, so genau wollte ich es auch wieder nicht wissen, jedenfalls nicht vor allen anderen Kunden, die nur noch mich anzustarren schienen.
An den Weg zur Kasse erinnere ich mich nicht mehr, auch nicht wie ich bezahlt hatte. Durchgeschwitzt verliess ich - vorsichtig nach links und rechts ausspähend - die Apotheke und schlich heimwärts.
Die Bilanz sah im Grunde genommen gar nicht so schlecht aus. Ich hatte jetzt ein 12er Pack Blauband und eine Handvoll Musterpackungen tief unten in der Jackentasche verstaut. Ich wusste zwar nicht wozu, denn ich war noch Lichtjahre von einer festen Freundin entfernt. Aber Morgen würde ich der Held vom Pausenplatz sein. Und wenn ich die Gratismüsterli auf dem Schulhof gut verkaufen konnte, dann hätte ich auch das Geld wieder drin, um Mutters Crème zu kaufen.
Peter Maibach
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